Warum sieht mich niemand?
Manchmal ist es zum Verzweifeln. Alles um mich herum scheint zusammenzubrechen. Da sterben liebe Bekannte plötzlich und unerwartet. Da tobt ein Krieg in der Ukraine, dem ich machtlos zusehen muss und der so viel Leid über viele Menschen bringt. Da muss ich all meine bisherigen Überzeugung von Umgang mit Waffen überdenken und mein Weltbild gerät ins Wanken. Da wird als Auswirkung des Krieges alles teurer und ich habe Angst, dass ich mir Wärme und Geborgenheit in diesem Winter nicht leisten kann. Da zeigt überall unsere Gesellschaft Risse, weil wir keine gemeinsame Vorstellung haben von dem, wie wir zukünftig zusammenleben wollen. Ja – all das drückt mich nieder und niemand sieht, wie mich dies beschäftigt. Vielleicht, weil ich es gelernt habe, gut mit Masken zu leben, und deshalb mir niemand das Leid und den Schmerz ansieht. Oder weil ich mich zurückziehe, so dass niemand mich in meinem Leid sieht. Oder, oder… Was bleibt, ist die Frage: Warum sieht mich niemand?
Genauso ging es vor vielen tausend Jahren der Magd Hagar. Da ihre Herrin Sarah keine Kinder gebären konnte, hat sie ihrem Mann Abraham empfohlen, die Magd zur Frau zu nehmen. Hagar wurde schwanger. Das hat die Beziehung zwischen Sarah und Hagar so belastet, dass Hagar keinen anderen Weg sah, als zu fliehen. Sie zog sich zurück in die Wüste – dort, wo sie niemand finden konnte in ihrem Leid, in ihrer Wut und Verzweiflung. Eigentlich bestand keine Chance, dass sie gesehen wird. Und dann heißt es in der Bibel, dem heiligen Buch der Christen: Und der Engel des Herrn fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste. Es gibt jemand, der sie in ihrem Leid sieht, mit ihr spricht und ihr Hoffnung macht auf neues Leben – denn sie wird einen Sohn gebären, ein Zeichen für einen Neuanfang.
Hagar fasst neuen Mut und sie sucht nach Worte für die Person, die mit ihr gesprochen hat: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Damit ist alles gesagt. Da gibt es einen, der mich sieht, der mich in meinem Leid nicht alleine lässt, der mich mit meinem Leid annimmt und der mir einen Weg zeigt, wie es weitergehen kann. Damit sind nicht alle Probleme gelöst – aber ich weiß jemand an meiner Seite, der mich bei diesem schwierigen Weg begleitet.
Dies ist die Jahreslosung, also das Motto für das neue Jahr. Jedes Jahr bekommen wir Christen ein solches Wort geschenkt, das uns begleiten soll im neuen Jahr. Es ist Trost für mich, weil ich darauf vertrauen kann, dass ich gesehen bin. Wie oft habe ich schon erlebt, dass ich in schwierigen Situationen jemand begegnet bin, der mich ansieht und mich wahrnimmt. Und das Motto macht mich aber auch selbst „hellsichtig“: Wo ist ein Mensch bei mir in der Nähe oder in der Ferne, der meine Aufmerksamkeit braucht, der gesehen werden will, damit er neuen Mut bekommt? In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes, gesegnetes Jahr 2023, in dem Sie gesehen werden und Sie andere sehen. Aus solcher „Hellsichtigkeit“ entsteht neues Leben, neue Perspektiven und neuer Mut im Umgang mit all den scheinbar unlösbaren Problemen.
Im Namen des Kirchspiels Kohrener Land – Wyhratal
Peter Ruf